Die jungen Alten von heute

Meine 18jährige Tochter hat einen Mann im Internet kennen gelernt. Sie haben 2 x miteinander telefoniert, bevor sie sich 1 x getroffen haben. Sie fahren nächstes Wochenende zusammen weg und sprechen von einer gemeinsamen Wohnung und Heirat…

Nein, so ist es zum Glück nicht. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich einigermaßen verstört aus der Wäsche gucken würde, wenn diese Szene tatsächlich so passieren würde. Wer weiß, was in ein paar Jahren auf mich lauert, aber aktuell denke ich, dass ich meiner Tochter zu ein bisschen mehr Geduld und Zeit und all diesen Dingen raten würde.

In meinem Umfeld ist zu beobachten, dass die „neuen Alten“ ganz anders davor sind als die „Jugend von heute“. Nach dem Verlust eines Partners – sei es durch Trennung oder auch Tod – muss ganz schnell eine neue Hälfte her. Da werden Partnerbörsen und Probeabos für Parship bemüht, mehrere Dates mit verschiedenen potenziellen Partnern zwischen den Tagen vereinbart (das ist für die Männer einfacher als für die Frauen, denn es gibt einfach viel mehr Frauen auf dem Heiratsmarkt 70+). Lange Listen, die aus Kontaktanzeigen mit angegebener privater Handynummer entstehen, werden nach und nach abgehakt und durchgestrichen. Trotz Corona (oder wegen Corona) wird in den Wohnungen Kuchen gegessen und in eventuell vorhandenen Ferienwohnungen genächtigt. Nach 10 Tagen des Kennenlernens ist klar, dass Silvester ein gemeinsames Fest sein muss.

Den neuen Alten läuft anscheinend die Zeit weg. Es ist keine Zeit für Trauer oder die Verarbeitung einer Trennung. Sie fühlen sich nicht komplett und stürzen sich mit ganzem Herzen in neue Beziehungen, die dann bis zum Lebensende halten sollen. Die Chance ist mit zunehmendem Alter größer – aber nicht, weil die Paare besser zusammen passen. Oft wird gestritten und sich maßlos über den anderen geärgert, und es wird sich auch wieder getrennt. Es werden in hohem Alter Hunde angeschafft, die dann nach der Trennung als Scheidungshund enden und zunächst hin und her gereicht werden, bis beide wieder einen neuen Partner haben und der Hund nun gar nicht mehr ins neue Leben passt. Dann muss der Hund wieder weg.

Die Kinder der neuen Alten beobachten das Alles mit Verwunderung. Waren das doch die, die versucht haben, ihre Kinder vor derartigen Kurzschlusshandlungen zu bewahren. Die, die meinten, die jungen Leute würden sich heute nicht mehr auf herkömmliche Weise kennen lernen: über Freunde beim Tanzen oder Einkaufen. Lange Zeit waren das die, die das Internet verteufelten. Einige Kinder drehen die Augen verzweifelt zum Himmel in Angesicht ihrer verliebten Elternteile und kündigen an, nicht zu einer weiteren Hochzeit des Vaters zu kommen. Dabei kennt das Paar sich doch schon seit immerhin 3 Wochen.

Es ist eine verkehrte Welt geworden, die die liebeshungrige Nachkriegsgeneration in den Augen ihrer Kinder nicht gut aussehen lässt. Eine rastlose Partnersuche gepaart mit hohen Ansprüchen, trotzdem großer Kompromissbereitschaft, um nur nicht alleine bleiben zu müssen und einer gewissen Hetze, die für die Ergründung von Gefühlen so gar keine Zeit zu lassen scheint.

Ich werde meiner Tochter in ein paar Jahren raten, den jungen Mann noch besser kennen zu lernen, bevor die Hochzeit geplant wird. Ich denke, ich bleibe dabei. Und ich hoffe, dass sie mich im Zweifel später daran erinnert, das ebenso zu tun.

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